August Reulecke hält es selbst für ziemlich unwahrscheinlich, dass die zweite und die dritte Geschichte mit den schwedischen Reitersignalen im Zusammenhang stehen. Für die wahrscheinlich zutreffende Variante hält auch er die bereits von Dr. Bitthorn gefundene erste Geschichte.

 

Da aber alle Geschichten sehr interessant sind, schreibt August Reulecke einen kleinen Roman, der Elemente aus all diesen Geschichten miteinander verknüpft. Er veröffentlicht ihn im Jahre 1922 unter dem Titel “Die schwedischen Reitersignale”.

In Delitzsch sind aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges die Noten der Trompetensignale eines schwedischen Reiterregimentes überliefert, sowie die dürftige Information, dass mit diesen schwedischen Reitersignalen die Stadt Delitzsch aus großer Gefahr errettet wurde.

 

Um das Jahr 1900 herum stellte ein Dr. Bitthorn aus Berlin Nachforschungen an, ob es schriftliche Überlieferungen gibt, aus denen hervorgeht, auf welche Weise mit den Schwedischen Reitersignalen die Stadt Delitzsch gerettet wurde. Bei einer Frau Dümchen konnte er in die handschriftlichen Aufzeichnungen einer Delitzscher Patritzierfrau aus dem Dreißigjährigen Krieg Einsicht nehmen, und fand darin die auf der Seite „Die schwedischen Reitersignale“ wiedergegebene erste Geschichte.

 

1922 nimmt August Reulecke die Suche nach passenden Geschichten für die schwedischen Reitersignale wieder auf. Er findet zwei, die aber beide wohl nichts mit den schwedische Reitersignale zu tun haben.

 

Die zweite Geschichte, die auf Aufzeichnungen von Kantor Thierbach beruht, erzählt von der nicht standesgemäßen Liebe des Türmerssohnes zur Tochter des Bürgermeisters, nachdem er diese dem Feuertod entrissen hat. Da einer Hochzeit nicht zugestimmt wird, dient der Türmerssohn als Trompeter in einem schwedischen Reiterregiment, bis er nach dem Tod des Vaters selbst Türmer wird. Als er durch machtvolles Blasen eine Rotte Kroaten zu eiliger Umkehr bewegt und damit die Stadt rettet, kommt endlich auch die lang ersehnte Hochzeit mit der Tochter des Bürgermeisters zu Stande. Diese Begebenheit hat Kantor Thierbach auch in Versform niedergeschrieben:

 

An eines Städtchens Spitze,
da standen ihrer zwei;
der eine auf dem Sitze
der Bürgermeisterei.
Der sah nach allen Rechten
und Ordnung war sein Spruch;
zu wehren allem Schlechten,
hat er zu tun genug.
Der andre wohnt hoch oben,
nahm auch die Stadt in ach
bei Sturm und Wettertoben,
bei Tage und bei Nacht.
Und zu den heil‘gen Stunden
bläst er mit kluger Wahl
von seiner Höh‘ nach unten
erbaulichen Choral.
Und jedem von den beiden
schenkt Gott der Kinder eins.
Beliebt bei allen Leuten
dem Bürgermeister seins.
Das war ein holdes Wesen,
ein feines Töchterlein,
und wer es auch gewesen,
nennt es ein Andrer sein.
Des Türmers blonder Knabe
dacht höher als er ‘s war,
doch manche gute Gabe
nahm man an ihm sonst war.
Den Vater zu vertreten,
war ihm ein Leichtes nur.
Er konnte auch trompeten
und schlagen nach der Uhr.
Wohlan! So sei beschlossen
von mir und von dem Rat,
von allen Stadtgenossen,
den Bürgern dieser Stadt:
Verdienst klebt nicht am Stande,
steh‘ einer, wo er steh‘,
du wehrtest einst dem Brande
von deines Turmes Höh‘.
Du warst der Lebensretter
für mich, mein Weib und Kind;
durch deines Tons Geschmetter
wir alle Schuldner sind.
Ich an der Bürger Spitze,
ich opf‘re alles Dir,
was ich allhier besitze,
denn so geziemt es mir.
Steig nieder von der Höhe,
geknüpfet sei das Band,
wohn‘ unten und bestehe
Stadtmusikus genannt.
Was bringen auch die Jahre;

Ihr Bürger dieser Stadt,
vergeßt nicht die Fanfare,

Die sie gerettet hat.

 

 

 

Die dritte Geschichte handelt von einer Türmerstochter, die von ihrem Vater Trompetensignale erlernt hatte, und bei dessen Abwesenheit durch Blasen dieser Signale dafür sorgt, dass ein Angriff schwedischer Reiter rechtzeitig wahrgenommen wird und dadurch erfolgreich abgewehrt werden kann:

 

Im Jahre 1637 behütete ein Türmer die Stadt Delitzsch, der eine Tochter hatte. Die war recht einsam, da ihre bekannten den hohen Turm mieden. Sie bat eines Tages ihren Vater, ihr das Trompeteblasen beizubringen, damit sie sich die Langeweile vertreiben könnte. Sie war eine gelehrige Schülerin und erfreute sich an den Klängen der erlernten Fanfaren.

Eines Tages sollte sie ihren Vater als Wächterin vertreten. Da sie am Ausguck in die Runde spähte, bemerkte sie in der Ferne eine Staubwolke, die sich auf die Stadt zuwälzte. Als sie bald genug Reiter unterschied, ahnte sie Unheil für die Stadt und gebot die Bürger durch ein warnendes Signal auf die Wälle. In Waffen erwarteten sie die Feinde zu blutigem Empfang. Als die schwedischen Reiter die Bürger zur Verteidigung bereit fanden und keine Beute zu holen war, wendeten Sie eilends um und stoben davon.

 

Im Jahre 1921 wird diese dritte Geschichte auf den Rückseiten von sechs Notgeldscheinen der Stadt Delitzsch dargestellt.

 

Da diese Geschichte, die wir heute unter der Bezeichnung „Die Sage von der Delitzscher Türmerstochter“ kennen, vor 1921 nicht bekannt war, ist anzunehmen, dass sie Oskar Reime speziell für diese Notgeldserie verfasst hat.

Ab 1990 werden zum Delitzscher Peter-&-Paul-Fest die Schwedensignale von der Türmerstochter geblasen. Wie wir aus den vorangegangenen Ausführungen ersehen konnten, haben aber Schwedensignale und Türmerstochter historisch gesehen nichts miteinander zu tun.

 

Die Geschichte von den schwedischen Reitersignalen und die Geschichte von der Delitzscher Türmerstochter wurden also erst 1922 von August Reulecke in seinem Roman „Die schwedischen Reitersignale“ zu einer Geschichte verschmolzen.

„Die alten Schweden von 1637“, Historische Gruppe im „TCL 1969“ e.V., Delitzsch

 

Die Sage von der Delitzscher Türmerstochter

 

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